Einmal im Jahr befindet sich Irak im Ausnahmezustand: Zum Ende des sogenannten Arbain-Festes machen sich 20 Millionen Muslime aus Irak und aus der ganzen Welt auf den Weg von der südirakischen Stadt Nadschaf in die 80km entfernte Stadt Kerbela, um Imam Hossein zu gedenken, der in der Schlacht von Kerbela (680 n. Christus) umgekommen ist und für die Shiiten bis heute eine Märtyrerfigur verkörpert. Die Schlacht von Kerbela ist ein Meilenstein in der Gründungsgeschichte des shiitischen Glaubens, der sich seit je her gegen den sunnitischen Glauben stellt. Die daran erinnernde größte jährliche Pilgerwanderung der Welt ist kein besinnliches Fest und verkörpert alles andere als die europäische Vorstellung vom Pilgern: Millionen Menschen wandern in schwarz gekleidet bei 45 Grad entlang einer lauten Staatsstraße zur nächsten Stadt.  Es wird gefeiert, Musik dröhnt laut aus den Boxen und überfüllte Mülleimer sorgen dafür, dass Unmengen von Plastikmüll am Wegesrand verteilt sind. Das Trauerfest gleicht viel mehr einem Festival, auf dem feiernd getrauert wird: Das Schlagen auf die Brust verbunden mit feierlichen Gesängen ist ein etabliertes Ritual, mit dem Menschen um den Imam trauern. Die Inbrunst so groß, das hier und da die ein oder andere Träne fließt. Es ist gelebter Glaube, der den Menschen in diesen einen ungeheuren Antrieb zu geben scheint: Unzählige Muslime sind bereit dafür, in diesen vier Tagen alles an Hilfsbereitschaft aufzufahren, was irgendwie möglich ist: Sie verteilen Wasserflaschen, transportieren Eisblöcke, versorgen verletzte Pilger, bereiten kostenlos Mahlzeiten zu oder reparieren Rollstühle und Kinderwägen von Pilger*innen, viele investieren sogar eigenes Geld in Schlafunterkünfte, die sie Pilger*innen anbieten. Einer von ihnen ist Haidar Al-Helo, der in solch freiwilligem Helfen auch eine Investion in das eigene Jenseits sieht.  Mit seinen Gaben will er Punkte bei Allah sammeln. 
Das Event ist zugleich politisch aufgeladen. Das iranische Regime versucht vielerorts, mit Plakaten und Botschaften Einfluss auf die Pilger zu nehmen. An Laternen der Staatsstraße werden Kämpfer gegen den IS mit Plakaten geehrt. Zudem sind am Wegesrand antisemitische Symbole zu erkennen und so mancher Pilger zweifelt im Gespräch an der Idee von der Trennung zwischen Staat und Religion. Eine Reise durch die religiösesten Tage im Irak und durch die Ambivalenzen, die Religion unter Umständen mit sich bringt: Zwischen enormer Gastfreundschaft und Tendenzen zu religiösem Fundamentalismus.
Entstanden mit Autor Teseo La Marca, der das alles in seinem Text nochmal prägnanter beschreibt. Veröffentlicht in der NZZ und im Go-Magazin der @reportageschule. Unterstützt von der Journalismusförderung real21​​​​​​​

Eine Pilgerin vor einer Unterkunft für shiitische Frauen auf dem Weg nach Kerbela.

Wegen eines Brandes nehmen die Pilger einen kurzen Umweg über die unmittelbar benachbarte Schnellstraße.

Haidar Al-Helo (2.v.l) und seine Freunde rufen die Autofahrer zum Langsamer Fahren auf, damit sie selbst gemachten Ayran über die Staatsstraße zum benachbarten Pilgerweg transportieren können. 

Eine Gruppe von schiitischen Frauen macht eine Pause am Vormittag. 

Eine Gruppe schiitisches Männer stimmen im Imam Ali Schrein in Nadschaf zu Trauergesängen an, wenige Tage, bevor sie den Weg nach Kerbela antreten.